Ich kann die Fernseh-Bilder der verheerenden Erdbeben in der Türkei und in Syrien kaum ertragen – unvorstellbar, welches Leid und welche Schmerzen Menschen dort erleiden …
„Ich habe das Elend meines Volkes gesehen und ihr Geschrei gehört!“
Gott sagt das, als seine Menschenkinder unter der Gewaltherrschaft des Pharaos kaputtzugehen drohen. Gott hat gesehen und – so erzählt die Bibel – beauftragt Mose, diesem Elend ein Ende zu setzen.
Das ist lange her, sagt Ihr vielleicht. Alte Geschichten,
Erzählungen, die mit uns heute doch nichts zu tun haben.
Ja – alt sind die Geschichten schon – aber was sie über Gott sagen, das hat an Deutlichkeit und Aktualität nicht verloren:
Gott sieht – und es lässt ihn offensichtlich nicht gleichgültig, was er sieht.
Es ist ihm nicht egal, wie es seinen Menschenkindern geht.
Damals bekommt Gottes Sehen und Mitleiden ein menschliches Antlitz mit Mose.
Er führt sein Volk aus der Sklaverei in Ägypten.
Und heute?
Jeder Gottesdienst endet mit der Bitte an Gott, er möge uns sein Angesicht zuwenden – und ich möchte schreien und rufen: Ja, Gott! Wende dein Angesicht nicht ab, lass es über uns leuchten, lass von diesem Schein ein wenig auf unsere Gesichter fallen, damit wir einander sehen. Damit wir einander wahrnehmen, damit wir uns anrühren lassen von dem, was andere Menschenkinder erleben und ertragen.
Ob unsere Gesichter dazu bereit sind?
Ob sie bereit sind, vom Leuchten des Angesichtes Gottes etwas aufzunehmen?
Lass leuchten dein Angesicht über uns, Gott!
Ob unsere Gesichter dazu bereit sind?
Ob sie bereit sind, vom Leuchten des Angesichtes Gottes etwas aufzunehmen?
Oder wird es uns wie jenem Mann in dieser kleinen Geschichte ergehen:
Verstört stand er im Badezimmer vor seinem Spiegel – er sah – nichts. Was für ein Tag war heute? Hatte er etwas Entscheidendes vergessen? War gestern etwas passiert?
Nichts Besonderes fiel ihm ein – aber es blieb dabei: Sein Gesicht war weg. Er schaute in den Badezimmerschrank, er suchte unter dem Bett – vergeblich – sein Gesicht blieb verloren. Freunde hörten davon. Auch sie begannen zu suchen. Sie fragten ihn – er antwortete – immer wieder. Doch das Gesicht blieb verloren. Drei Tage später – sein Enkelkind besuchte ihn. Grade erzählte es davon, wie es draußen Streit gab mit den Spielkameraden und davon, wie sein Freund ihn verteidigt hatte – da war es wieder da, sein Gesicht. Der Mann staunte –
Woran erinnert Sie diese kleine Geschichte?
Meine ersten Gedanken gehen in den politischen Raum:
Ich denke an einen Herrscher Putin, der den Krieg immer weiter führt, um – ja, warum? Ja – vielleicht auch darum, um sein Gesicht zu wahren – und wenn es auch nur noch ein sehr entstelltes menschliches Antlitz ist.
Oder –
Ich denke an die Verteidigungsministerin, die ihrem Amt nicht gewachsen ist, und der nur der Rücktritt vom Amt bleibt, um nicht ihr Gesicht zu verlieren.
Vielleicht sind da auch Gedanken an den letzten Streit mit dem Partner, an Auseinandersetzungen in der Schule oder an noch anderes – Persönliches – von dem wir nur selbst wissen.
Wer sein Gesicht verliert, der verliert ein Stück weit sich selbst. Mit Gesichtsverlust droht der Verlust dessen, was uns ausmacht. Unser Gesicht kommuniziert dem anderen, wer wir sind und wie es uns geht. Unser Gesicht spricht auch ohne Worte. Wer sein Gesicht verliert, der ist für sein Gegenüber nicht mehr erkennbar.
Und wenn es dann doch passiert, dass wir unser Gesicht nicht wahren können?
So, wie es damals einem Petrus ergangen war – die Bibel erzählt davon: „Ich bin dein Freund“, sagt er zu Jesus, „ ich stehe zu dir, was auch immer kommt.“ Aber dann – wie jämmerlich: Als es hart auf hart kommt und es droht, dass er selbst verhaftet wird, da kneift Petrus: „Den da, der im Gerichtssaal steht, den kenne ich nicht.“ Dreimal passiert das – und es bleibt diesem Petrus nichts mehr als bitter zu weinen.
Das Gesicht verloren – aber Freunde gehabt, die ihn nicht fallen gelassen haben. Und dem begegnet, den er im Stich gelassen hatte, von Angesicht zu Angesicht: „Ich gebe dir dein Gesicht wieder“ sagt Jesus zu ihm. „Du bleibst mein Freund. Du wirst in Zukunft Menschen davon erzählen, wie es dir mit mir ergangen ist. Und du wirst anderen zur Seite stehen – wirst anderen suchen helfen bei ihrer Suche nach ihrem Gesicht, nach ihrem Selbst.“
Über diesen Jesus sagt die Bibel, es sei Gott selber, der dem Menschen Vis-a-vis – von Angesicht zu Angesicht – Frieden zusagt, auch Frieden mit sich selbst, Frieden mit dem, wer ich bin, mit Macken und Fehlern.
„Die Niedrigkeit seiner Magd hat er angesehen!“, jubelt eine Maria, als sie erfährt, dass sie Jesus zur Welt bringen soll.
Von Gott angesehen – wertgeschätzt und das verloren gegangene Gesicht wiedergefunden.
Wie das gehen soll?
Im menschlichen Antlitz des Freundes neben mir blickt mich Gott selber freundlich an, gibt mir mein verlorenes Zutrauen, mein Gesicht wieder.
Gottes Angesicht – es spiegelt sich wider im Gesicht des Freundes, des anderen Menschen mir gegenüber.
Wenn es dann doch geschehen ist, dass wir unser Gesicht verloren haben?
Dann ist es gut, dass jemand da ist, der uns dennoch in die Augen schaut, der seinen Blick nicht abwendet und uns alleine im Regen stehen lässt.
Dann ist es gut, Menschen zur Seite zu haben, die uns zuhören und die uns suchen helfen.
Ein Gott, der sieht, der wendet sein Angesicht nicht ab von seinen Menschenkindern.
Genau darum bitten wir ja am Ende eines Gottesdienstes:
„Der Herr lasse leuchten sein Angesicht über uns und sei uns gnädig. Er erhebe sein Angesicht auf uns und schenke uns Frieden!“
Gott ist für uns da, er umarmt das Schöne und das Hässliche,
das Liebenswerte und das Traurige.
Wo wir ihn in unsere Nähe kommen lassen, da geschieht Heil.
Gott, der sein Angesicht zuwendet, würdigt mich seines Blickes.
Und er beschenkt mich mit einem Mit-Menschen, den er mir an die Seite stellt.
Damit ich mein Gesicht wahren kann. Damit ich bereit bin für das leuchtende Angesicht Gottes über mir. So möge es sein! Amen!